Das finde ich interessant, denn normalerweise nenne ich so etwas eine “Weg von…”-Strategie.
Eine Vermeidungsstrategie? Um Negatives zu vermeiden?
Beispielsweise um zu vermeiden, dass man ein Stück „vergeigt”.
Stimmt, es ist sehr motivierend, ein blödes Gefühl verhindern zu wollen (lacht). Das ist wie das Kind, das auf die heiße Herdplatte fasst: „Okay, das mach‘ ich nicht nochmal. Das hat keinen Spaß gemacht!“ Das gehört zum Lernen dazu, denke ich.
Hilary Hahn, 2011. © Peter Miller
Als Coach rate ich meinen Klienten aber normalerweise, nicht Negatives vermeiden, sondern positive Ziele erreichen zu wollen…
Wenn ich auf der Bühne von irgendetwas Negativem abgelenkt werde, kann ich mich auf das Positive nicht konzentrieren. Mir geht es deshalb darum, zunächst einmal das Negative aus dem Weg zu räumen, das sich dem Positiven in den Weg stellt. Das Schlimmste, was Du machen kannst, ist, Angst davor zu haben, einen Fehler zu machen. Das kann Dich manchmal richtig lähmen.
Aber wenn Du Dich selbst in die Position bringst, dass Du Dir diese Sorgen nicht zu machen brauchst, dann ist das doch etwas wirklich Positives! Wenn ich also merke, dass es nicht so läuft, dann kann ich mir doch zumindest sicher sein, dass ich mich gut vorbereitet habe. Dass ich alles versucht habe. Und aus dieser Position heraus fokussiere ich mich nicht länger auf die Sachen, die nicht funktionieren, sondern auf das, was ich in diesem Konzert erreichen möchte.
Es ist also eine Kombination aus beidem, dem Positiven und dem Negativen. Das ist wie bei einem Date: Du willst nicht schlampig aussehen oder mit Salat zwischen den Zähnen herumlaufen. Aber das heißt noch lange nicht, dass Du Dich nicht gleichzeitig auf einen tollen Abend freuen kannst.
Viele Sportler schwärmen vom mentalen Zustand des so genannten „Flow“. Hat das für Dich auch irgendeine Bedeutung?
Auf jeden Fall. Neulich hat jemand über seinen persönlichen “Matrix-Zustand” gesprochen. So als sei er da drin, und alles passiert einfach wie von selbst.
Genau darum geht’s. Manche Leute nennen es auch „Das Momentum“, aber ich denke, „Flow“ trifft es schon ziemlich genau…
Absolut! Es ist ein Fluss! Es fühlt sich so an, als würdest Du in Dir selbst fließen, aber gleichzeitig fließt auch alles, was um Dich herum passiert.
In einem Interview hast Du mal etwas Erstaunliches gesagt, das für mich schon sehr nach der perfekten Beschreibung des Flow-Zustands klang: „Es fühlt sich fast so an, als wärst Du im Instrument drin … Plötzlich fragte ich mich ‚Moment mal, bin ich das, die das hier gerade spielt?! Ja, tatsächlich! Anscheinend bin ich dafür verantwortlich, ich höre hier nicht nur passiv zu…“
In manchen Hallen – ich denke da insbesondere an eine in Japan und eine in Philadelphia – erzeugen die Halle, die Violine, die Energie des Publikums und all das irgendwie eine gemeinsame Schwingung. Es kommt mir dann so vor, als sei eigentlich die Halle das Instrument, das ich spiele. Das ist ein ganz seltsamer Kreislauf, und ich stehe da mittendrin. Von daher ist das schon irgendwo eine Beschreibung von Flow, aber gleichzeitig auch das Fühlen der Atmosphäre, und wie all diese Dinge miteinander in Verbindung stehen.
Auf den Kontaktpunkt fokussiert… © Mathias Bothor / DG
Dennoch schätze ich, dass Du Dich bei Deinen Auftritten in einer Art Flow-Zustand befindest, denn immerhin spielst Du alles komplett auswendig, ohne irgendwelche Notenblätter…
Dafür, dass ich nicht allzu oft vom Blatt ablese, gibt es eine ganz pragmatische Erklärung: Ich bin nämlich kurzsichtig. Wenn ich auf der Bühne bin, schaue ich gerne auf den so genannten „Kontaktpunkt“, das ist dort, wo der Bogen die Saite berührt. Von dort geht der Ton aus, das ist ein sehr empfindlicher Balance-Punkt. Wenn ich eine Brille oder Kontaktlinsen trage, ist dieser Punkt zu nahe an meinem Auge, als dass ich ihn sehen könnte.
Manche Leute denken, ich würde beim Spielen die Augen schließen, aber das stimmt nicht. Ich schaue auf den Kontaktpunkt. Wenn ich mit einem Orchester auftrete, schaue ich zum Dirigenten hoch, ich schaue herum, nehme alles auf, was um mich herum so vorgeht. Ich kann sogar die Musiker in den hinteren Reihen des Orchesters gut sehen, aber ich sehe eben nicht scharf genug, um Noten zu lesen.
Das ist der praktische Aspekt. Es gibt aber noch einen anderen: Mit meiner Brille oder meinen Linsen kommt es mir so vor, als sei da eine Mauer zwischen mir und dem, was ich gerade mache.
Verschwommen zu sehen könnte mit der Zeit unter Umständen sogar zu einer Art visuellem Anker für Deinen kreativen Ressourcen-Zustand geworden sein…
Lustig, dass Du das sagst, denn neulich war ich für die Aufnahmen zu einer Filmmusik im Tonstudio. Die Noten zu einer Filmmusik bekommst Du immer erst in letzter Minute, denn das ist auch das Letzte, was produziert werden muss bei einem Film. Ich hatte also meine Brille auf, um die Noten lesen zu können, weil ich sie so kurzfristig nicht auswendig lernen konnte. Aber ein kleiner Ausschnitt wollte und wollte einfach nicht klappen. Ich hab’s immer und immer wieder gespielt, aber irgendwie hab ich die emotionale Wirkung, die ich da rauskitzeln wollte, einfach nicht hinbekommen. Irgendwann hat’s mir gereicht und ich meinte: „Okay, ich hab das jetzt lange genug probiert, ich nehme jetzt meine Brille ab. Lasst es uns aufnehmen!“ Und ich hab’s auf Anhieb hinbekommen!
Das spricht für meine Anker-Hypothese. Ist doch manchmal verrückt, oder? Mit Brille sehen Deine Augen klarer, aber ohne Brille sieht Dein Kopf klarer…
Richtig. Mit meiner Brille oder den Linsen gibt es dieses gewisse Etwas dazwischen. Ich habe dann nicht das Gefühl, als käme die Musik aus mir heraus. Sie wird mir dann irgendwie von außen vorgesetzt, und ich muss dann damit umgehen.
Mein Gedächtnis arbeitet eher visuell…
Wenn sich kein natürliches Gefühl einstellt, versuche ich, auswendig zu spielen. Mein Gedächtnis arbeitet eher visuell, insofern sehe ich in meiner Vorstellung schon etwas, während ich spiele.
Das ist schon bizarr, wenn eine Weltklasse-Musikerin von sich behauptet, ein eher visueller Typ zu sein… Du siehst also die Noten vor Deinem geistigen Auge? Du visualisierst die Musik?
Ja. Ich bin nicht verloren, wenn ich keine Partitur vor mir habe, denn ich weiß, wie sie aussieht. Sie ist da irgendwo in meinem Kopf.
Du erinnerst Dich an die Musik also mehr durch Sehen als durch Hören?
Also, um die Noten, die der Komponist sich überlegt hat, zunächst einmal vom Blatt zu bekommen, ist Lesen nun einmal Deine einzige Referenz. Auf diese Weise erfährst Du, was Du da eigentlich spielst. Der Klang ist dann ein ganz eigener Teil der Erfahrung. Ich weiß, wie es klingt, aber der Klang ist auch noch mit dem Moment der Performance verbunden. Und dann gibt es da noch das Muskelgedächtnis. An dem einen Abend dominiert das eine, am nächsten Abend das andere.
Hilary Hahn, 2012. © Mareike Foecking
Du benutzt also verschiedene Wahrnehmungskanäle, während Du spielst: Du visualisierst die Partitur, Du hörst den Klang, Du nutzt Dein Muskelgedächtnis, was ja eine kinästhetische Art der Wahrnehmung ist…
Idealerweise gelange ich an einen Punkt, an dem ich die nächsten Noten gar nicht mehr im Kopf habe. Wenn es nötig sein sollte, kann ich sie jederzeit abrufen, um mich zu vergewissern, wo ich gerade bin. Aber im Grunde genommen weiß ich das immer. Am liebsten habe ich gar keine Noten im Kopf. Das habe ich allerdings erst in den letzten Jahren herausgefunden.
Ich spiele ein Stück so oft und kenne es so gut, dass die Noten einfach nur noch durch mich hindurchfließen. Dann fühlt es sich an, als gehöre die Musik mir, als fließe sie aus mir heraus. Natürlich weiß ich, dass sie von jemand anderem ist. Aber das ist wirklich der Idealfall: Wenn ich mich frage: „Erschaffe ich das jetzt gerade, oder präsentiere ich es nur?“
Möglicherweise ist das ein weiterer Aspekt des “Im-Flow-Seins”…
Ja, vielleicht. Aber Du musst immer wissen, wo Du bist. Das ist in etwa vergleichbar mit der Gegend, in der Du wohnst und Dich auskennst: Je besser Du Deine Nachbarschaft kennst, desto eher nimmst Du auch mal ‘ne Abkürzung, denn schließlich kennst Du ja Deine Wege. Wenn Du Dich jedoch nicht so gut auskennst, suchst Du Dir bestimmte Punkte, an denen Du Dich orientierst. Vielleicht schaust Du trotzdem mal links und rechts in die Schaufenster, aber im Endeffekt benutzt Du immer dieselbe Strecke.
Du scheinst Deine Nachbarschaft aber ganz gut zu kennen…
Nun ja, jedes Stück durchläuft diesen Prozess. Und in letzter Zeit habe ich an vielen neuen Stücken gearbeitet. Ich war mit diesen Stücken auf Tour, gleichzeitig aber auch mit Stücken, die ich gut kannte, und mit alten Stücken, die für mich aber inzwischen wieder neu waren. Insofern war es eine gute Lektion darin, wie man Dinge neu lernt.
Hilary, ganz herzlichen Dank dafür, dass Du uns an Deinen Erkenntnissen und vielem anderen hast teilhaben lassen.
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5 Comments
Ein sehr schön und offen geführtes Interview Harald.
Kompliment! Und Hilary Hahn wie man sieht, nicht nur eine klasse Geigerin, sondern auch eine bezaubernde Erscheinung.
Weiter viel Erfolg.
Grüße, Nunzio
Vielen Dank, Nunzio, das freut mich sehr!
Sehr schönes und aufschlussreiches Interview.
Und du hast dir damit auch noch einen persönlichen Traum verwirklicht. Cool! 🙂
Grüsse aus der Schweiz, Thomas
Dankeschön, Tomaso. Ja, die Liste der Wunsch-Interviewpartner ist zwar immer noch lang, aber das war schon ein Highlight.
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