Foto: Sandra Wellmann
Darts ist nicht jedermanns Sache, ich weiß. Doch von diesem Match der jüngsten Darts-WM können wir alle eine Menge lernen.
„Hast Du Clemens gegen Ratajski gesehen? Was denkst Du: Woran hat’s gelegen?“, fragt mich mein Kumpel – wie ich großer Darts-Fan – am Tag nach dem dramatischsten Achtelfinal-Match der diesjährigen Darts-WM. Ja, hatte ich. Und natürlich fragte sich alle Welt, wie das geschehen konnte, was sich dort im leeren Ally Pally am 29. Dezember abspielte. Viel interessanter jedoch als die Frage, warum Gabriel Clemens, der letzte noch verbliebene deutsche Teilnehmer, im spannenden Finish des Matches gegen den Polen Krzysztof Ratajski insgesamt sieben Mal die Chance auf den Sieg vergab, finde ich die Frage: Was können wir alle daraus lernen? Eine Menge, so viel sei schon jetzt verraten.
Doch der Reihe nach: Was war geschehen im Londoner Alexandra Palace? Beim Stand von 3:3 nach Sätzen und 2:2 Legs im 7. Satz hat Gabriel Clemens die Chance, mit seinem dritten Dart und einem Treffer in die Doppel-16 das Finale für sich zu gewinnen, nachdem sein Gegner bereits zwei Match-Darts verworfen hatte. Clemens trifft jedoch nur die einfache 16 und muss mit ansehen, wie Ratajski für drei weitere Match-Darts an das Oche tritt. Dreimal die Chance auf die den Sieg bedeutende Doppel-5 für den Polen – aber auch der verwirft, und Gabriel Clemens kann mit drei weiteren Versuchen auf die Doppel-8 alles klar machen.
Doch das Unfassbare passiert: Der 37-Jährige vergibt auch seine nächsten drei Tickets ins Viertelfinale und muss das Oche wieder für Ratajski räumen. Nun hat dieser die nahezu sichere Gelegenheit, sich mit drei Würfen auf die Doppel-2 den Einzug in die nächste Runde zu sichern.
Das Drama nimmt seinen Lauf, als Ratajski auch seine Match-Darts Nummern sechs bis acht vergibt. Wieder bekommt Clemens die Chance, nun seinerseits mit den Match-Darts Nummern fünf bis sieben auf die bei den Spielern beliebte Doppel-4 die Sensation doch noch zu schaffen.
Drei weitere, völlig unverhoffte Würfe zum Check-out, zum Leg-Gewinn, zum Satz-Gewinn, zum Match-Gewinn. Noch nie hat ein deutscher Spieler den Einzug ins Viertelfinale beim berühmtesten Dart-Turnier der Welt geschafft.
Vielleicht schwirrt Clemens dieser Gedanke durch den Kopf, als er erneut ans Oche geht – und erneut alle drei Match-Darts vergibt! Ratajski, der bereits seit 13 Jahren Dart-Profi ist, hat Clemens Aufnahme mitverfolgt und kann es selbst kaum fassen, dass nun er wiederum drei weitere Chancen bekommt, den Sack zuzumachen.
Jetzt stehen beide Spieler bei zwei Punkten Rest. Für beide würde ein einziger Treffer in die Doppel-1 den Sieg bedeuten. Doch der Pole hat den entscheiden Vorteil auf seiner Seite: Er darf beginnen, und zwar mit drei weiteren Versuchen – seine Match-Darts neun bis elf. Von denen er nun gleich den ersten – insgesamt den 16. Sieg-Dart des gesamten Matches – versenkt und überglücklich zu Boden geht.
Was war da passiert? Wie können zwei Profi-Darter zusammen 15 Match-Darts vergeben? Um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass dieses Drama im Kopf der beiden Kontrahenten seinen Ursprung hatte, muss man sicherlich kein Mentalcoach sein. Und natürlich hat bei beiden auch die berühmte Angst vor dem Sieg(en) mit all den Gedanken an die Vergangenheit und Zukunft eine beträchtliche Rolle gespielt.
Im Falle von Gabriel Clemens war die Hauptursache jedoch eine andere. Und die konnte jeder relativ leicht identifizieren, der den Deutschen im dramatischen letzten Leg insbesondere dann beobachtete, wenn er nicht am Dartboard stand: Gabriel Clemens hatte das Match nach dem ersten, vierten und sieben Match-Dart im Kopf jeweils bereits verloren gegeben – er hatte den Aufmerksamkeitstunnel verlassen.
Zwischen den entscheidenden Aufnahmen stieg Gabriel Clemens komplett aus dem Match aus…
Jedes Mal, wenn Ratajski mit weiteren Match-Darts ans Oche trat, legte Gabriel Clemens sein Hochleistungsmindset wie einen Overall komplett ab: Die Körpersprache verlor an Muskeltonus, Clemens schüttelte den Kopf, sein Blick richtete sich nach außen – ein klares Zeichen dafür, dass sich der Deutsche nach jeder vergebenen Match-Aufnahme bereits mehr mit der Niederlage als mit der (zugegeben höchst unwahrscheinlichen, aber dennoch zweimal eintretenden) weiteren 3er-Chance auf den Sieg beschäftigte.
Dies hatte zur Folge, dass „Gaga“ Clemens jedes Mal, wenn er unverhofft wieder zu drei weiteren Match-Darts ans Oche treten durfte, seinen „mentalen Motor“ erst wieder „kaltstarten“, sozusagen aus dem Leerlauf wieder in den achten Gang schalten musste. Die Aufmerksamkeit so schnell wieder auf das Spiel zu fokussieren, die Außenwelt, die Innenwelt, die Vergangenheit (die bereits vergebenen Chancen) und die Zukunft („Was, wenn ich es jetzt wieder nicht schaffe?“) binnen weniger Sekunden auszublenden und den Fokus wieder zu einhundert Prozent auf das Hier und Jetzt zu richten, ist sogar für mental Hochtrainierte nahezu unmöglich.
Der Fehler von Gabriel Clemens lag also darin, zwischen den eigenen Aufnahmen mental zu sehr aus dem Spiel auszusteigen. Im Coaching mit meinen Spitzensportlern gehört dies sportartunabhängig zu meinen wichtigsten Maximen: Abschalten ist erst erlaubt, wenn die Chance zum Sieg bei 0,00% liegt. Dieser „Glaube bis zuletzt“ ist eine Qualität, die die allermeisten Champions, egal in welcher Sportart, besitzen. Aus meiner Sicht gilt es für Gabriel Clemens, in seinem Mentaltraining genau daran zu arbeiten, denn dort gibt es noch gewaltig Luft nach oben.
„Und welche Lehre können wir für uns daraus ziehen?“, frage ich meinen Kumpel zurück. Der denkt kurz nach und antwortet dann: „Um es mit Lenny Kravitz zu sagen: It ain’t over, till it’s over.“ Vollkommen richtig. Denn unverhofft kommt dann doch öfter, als wir denken. Und was schadet es, den Umgang mit einer Niederlage für den Zeitpunkt aufzuheben, wenn diese wirklich in Stein gemeißelt ist? Und bis dahin heißt es: Wo die Aufmerksamkeit liegt, da kann noch was gedeihen. Also lasst uns auch im Leben den Fokus so lange auf das Ziel richten, bis der letzte Dart geworfen ist.
PS: Zwei Tage nach dem Match lese ich in einer Zeitung über die „Match-Analyse“ von Gagas Mentaltrainer: Von „Es war das berühmte Momentum“ und „Es muss mehr Konstanz rein“ ist da die Rede. Solche oberflächlichen Aussagen ärgern mich sehr. Weil sie nichts aussagen, außer über die (In-)Kompetenz des Autors. Und weil solche Luftblasen das Tschakka-Image meines Berufsstands nur untermauert. Vor allem aber, weil ich mir nun ernsthaft Sorgen mache, dass Gabriel Clemens sich mit solcher „Unterstützung“ mental nicht mehr weiterentwickeln wird.
(Dieser Artikel erschien am 5. Januar 2021 auf LinkedIn.)